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La Gelateria

Von Glasgow nach Oban

17. bis 20. Juli 2024

Aufwachen zum Geruch nach Verbranntem. Jemand föhnt seine Socken? Wieder einschlafen. Ein zweites Mal Aufwachen mit klarerem Kopf. Zigarettenrauch, das ist der Geruch. Jemand sitzt am Fenster unter meinem Bunk Bed und raucht. Umdrehen und wieder einschlafen.

Beim Aufstehen sitzt der junge Mann immer noch da. Die Zigaretten Asche und Stummel im Becher. Er spricht mich an, ein Albaner aus Tirana. Ich war dort, letzten Sommer! Mit dem Fahrrad.

Ein letztes Mal in die Küche im Kellergeschoss, der Schandfleck dieser großartigen Jugendherberge. Das unnatürlich hell beleuchtete Esszimmer, die französische Großfamilie an ihren üblichen Plätzen. Der Vater grüßt immer, sonst sprechen sie leise. Nach jeder Mahlzeit spülen und trocknen sie picobello ab und wischen den Tisch, zuerst nass, dann trocken.

Der Proviantbeutel passt nicht in die Fahrradtasche. Umschichten in die Vordertasche, auch dort kein Platz. Die Sonnencreme, noch vom Mercadona, weghauen und stopfen.

Ich hab Zeit, die Fähre von Wemyss Bay geht jede Stunde und ich visiere erst die um fünf an. An der Rezeption den Schlüssel für den Fahrradkeller holen. Mit dem riesigen Schöpflöffel in der Hand der weite Weg in die Gasse hinterm Haus zum Fahrradkeller. Um halb elf losradln.

Sonnenschein. 15 km auf einem Radweg am rechten Ufer des River Clyde entlang raus aus Glasgow und seine Vororte. Über die Autobahnbrücke der A898 aufs andere Ufer des Clyde wechseln. Auf niederrangigen Straßen über Bishopton nach Port Glasgow. Von hier wieder der Sustrans Route 75 folgen, die von Glasgow einen Umweg ins Hinterland macht.

Eine halbe Stunde weiter in Greenock Kaffeepause im Gregg’s an der A78. Kein Wi-Fi aber eine 5 £ Note unter der Bank auf die ich mich setze. Die Spitzzange aus dem Werkzeugtascherl holen und endlich das rissige der Bandl der Casio tauschen. Danke an David aus Lampeter für das Bandl seiner kaputten F-91W.

Weiter am Ufer des Firth of Cylde, dem Ästuar des River Clyde. Im Norden Loch Long und die sonnenbeschienenen Berge des Loch Lomond National Park.

Als Loch bezeichnen die Schottinnen und Schotten Seen und Fjorde (also auch Meergewässer), nicht aber Ästuare (Firth). Loch spricht man wie das gleichnamige Wort im Deutschen aus. Die meisten Engländer:innen können den ch Laut nicht richtig aussprechen. Dadurch ist Loch ein Schibboleth, ein Wort mit dem sich die Schottinnen und Schotten von den Engländer:innen abgrenzen.

In Inverkip Ende der Radroute. Die letzten fünf Kilometer am engen Gehsteig der stark befahrenen A78 nach Wemyss Bay.

Der Bahnhof des Ortes geht fliesend in den Fährhafen über. Ein verglastes beigelackiertes Stahlgerüst schafft Wintergartenambiente von den Bahnsteigen bis zur Anlegestelle der Fähre nach Rothesay. Die pittoreske Station ein Überbleibsel der Blütezeit von Rothesay in der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Halb Glasgow fährt damals mit Zug und Schiff nach Rothesay auf Badeurlaub. Wie in allen anderen britischen Seebädern beenden erschwinglich gewordene Flugreisen in den Süden Europas diese goldene Ära.

Wenig Zeit die Station zu bewundern. Ticket kaufen und gleich zum Boarding, Fahrräder müssen mit den Autos von der Straße auf die Fähre. Von Wemyss Bay nach Rothesay auf der Isle of Bute fährt man eine gute halbe Stunde. Die Caledonian MacBrayn oder CalMac verlangt dafür 3.80 £. Das staatliche Unternehmen stellt die überwältigende Mehrheit der Fährverbindungen an Schottlands Westküste. Der Name Caledonia entsteht im Römischen Reich und bezeichnet die Gebiete des heutigen Schottlands nördlich des River Forth (etwa 30 km nördlich von Glasgow).

Der andere Radler an Bord ein pensionierter Maurer mit seinem Carbon Rennradl. Er ist ziemlich fertig von der der langen Radlrunde. Mit seinem Campervan steht er auf Bute und muss am Freitag heim zu seiner Frau in Edinburgh wie er immer wieder erzählt. Angekommen in Rothesay schickt er mich zum viktorianischen Heisl1 direkt am Pier, sehenswert meint er und hat Recht. Pissoirs mit schwarzem Marmordekor, Mosaikboden und kunstvolle Fliesen.

Die Victoria und Argyle Street runterradln. Ausschau halten nach einem gerüstbedeckten Haus, die Wegbeschreibung von Frank im Kopf. Er beherbergt mich heute via Warmshowers bei sich in Rothesay. Ein alter Mann in Jeanshosen kommt mir auf einem Peugeot Vintage Rennrad entgegen. Er habe mich schon am Pier gesucht während ich im edlen Klo bin. Ihm nachradln, vor einer steileren Straße fragt er ob ich nicht lieber schieben wolle. Frank wird übermorgen 87.

Die Erdgeschosswohnung in einem Altbau mit Sandsteinfassade, vom Wohnzimmer Blick auf das Rothesay Bay. Frank ist ehemaliger Psychologie- und Wirtschaftsprofessor und lebt allein in der gemütlichen und verwahrlosten Wohnung. Ein für sein Alter außergewöhnlich aufgeweckter Mensch. An dem Abend kocht er Curry und bäckt Sauerteigbrot. Lange in den samtbezogenen Lehnsesseln am Panoramafenster plaudern, dann am Klappsofa den Schlafsack ausrollen.

Frank ist ab sechs munter, der Krankenhaustermin in Greenock um acht. Ich darf länger schlafen und mich selbst rauslassen. Wie ich aufstehe zieht er die Jacke über. Unfeines Regenwetter, das Brot sehr sauerteigig.

Im Nieselregen zum Co-op, Proviant und Abendessen für eine Nacht draußen. Wieder am Haus lässt sich die Haustür nicht mehr öffnen, das Schnappschloss über der Klinke nicht gesehen. Zum Glück hat Frank einen Schlüsselsafe an der Wand und gibt mir den Code übers Telefon durch.

Ans Ende des Rothesay Bay radln, der Regen legt zu. Zum ersten Mal die Überschuhe auspacken. Die Brille voller Regentropfen, die Landschaft in dichtem Nebel. Zehn Kilometer blind die A886 der Küste entlang. Als einziger Passagier die kurze Fährfahrt nach Colintraive. Zurück auf schottischem Festland.

20 km in unablässigem Regen ohne Sicht und Orientierung um das Loch Riddon. In Tighnabruaich lässt der Regen nach. Vor dem Minimarkt fröstelnd und nass auf die Knochen ein Cheese and Onion Sandwich und einen Lion Riegel verschlingen. In der Teestube nebenan Glashausklima, Heizgebläse und Luftentfeuchter laufen auf Hochtouren. Mit beschlagener Brille zu einem Tisch stolpern und langsam aufwärmen.

Wenn der Regen nicht nass genug ist

Socken und Schuhe hoffnungslos durchnässt. Eine halbe Stunde nach Portavadie. An der Anlegestelle der Fähre nach Tarbert ein beheiztes Wartehütterl. Mit Föhn in der Toilette endlich die feuchten Socken und Schuhe trocknen. 20 Minuten Fahrt über das Loch Eyne nach Tarbert.

25 km auf der schmalen ausgestorbenen B8024 zu dem auf der Satellitenkarte gefundenen Zeltplatz am Meer. Wieder ausgedehnte Regenschauer. Durch ein schweres Weidetor und Schafe aufscheuchend über einen Schotterweg runter zum Meer. Direkt hinterm Kiesstrand ein perfekt gemähtes Stück Wiese.

Schnell das Zelt aufbauen und in trockenes Gewand wechseln. Warm werden bei einer Suppe vom Gaskocher. In den letzten Tagesstunden setzt sich endlich die Sonne durch. Am Horizont die Gipfel der Insel Jura.

Geweckt von lautem Blöken, Schafhufe erspähen durch den Spalt zwischen Außenzelt und Boden. Kaffee kochen und frühstücken im Zelt. Ein letzter Schauer dann Morgensonne. Die feuchte Ausrüstung am Weidezaun hinterm Strand aufhängen.

Früh losradln, knappe 90 km bis Oban. Mit Rückenwind machbar. Nach hügeligen 15 km auf der B8024 200 Höhenmeter bergauf zum Loch Arail. Die Sonne verschwindet im dichten Nebel.

Snackpause am gespenstisch stillen Loch. Rasante Abfahrt auf frischem Asphalt zur A83. Ein Stück auf der viel befahrenen Straße nach Ardrishaig. In einem Café eine riesige Tasse wässrigen Kaffee.

Die restlichen 60 km nach Oban auf der relativ ruhigen A816. Malerische Hügel und Küste, die Highlands hier noch nicht besonders wild.

Am frühen Nachmittag setzt sich die Sonne durch. Pause an einem Strand kurz vor Arduaine.

Abgeschlagen vom Wind die letzten 30 km durchdrücken. Geschlaucht in Oban ankommen. Verstopfte Straßen und bummvolle Gehsteige. An t-Òban bedeutet im Schottisch-Gälischen ‘Die kleine Bucht’, aber jetzt in der Saison verdreifacht sich die Anzahl der Einwohner:innen auf über 24.000. Direkte Zugverbindung nach Glasgow und Fährverbindungen auf die Inseln der inneren und äußeren Hebriden.

Zu früh dran für den Check-in im Oban Backpackers Hostel. Erschöpft in eines der abgewetzten Ledersofas im Aufenthaltsraum sinken und die Windstille genießen. Zu viele Farben, die Regale und Fensterbretter voller Ramsch, eine riesige an die Wand gemalte Karte der Umgebung. Langsam füllt sich der Raum und das Wi-Fi kollabiert.

Im Zimmer zehn Betten, meines das obere mitten im Raum. Leicht unwohl zweieinhalb Meter über dem Boden ohne Begrenzung an den Seiten. Bis spätabends im Aufenthaltsraum sitzen.

Nicht vom Bett fallen und nicht gut schlafen. Beim Frühstück spricht mich eine Gruppe Deutsche an, entlarvt am Telefon mit Kathi. Draußen schüttet es. Laut Wetterbericht den ganzen Tag. Es ist Samstag, das Hostel ausgebucht. Zum Glück finde ich Leo auf Warmshowers der in Oban wohnt und mich eine Nacht beherbergt. Bis zum Umzug im Hostel ausharren.

Am späten Vormittag beginnen die jungen Leute die ich zunächst für Gäste halte mit dem Staubsaugen, Wäschefalten und Müll rausbringen. Sie sind Volunteers und arbeiten für Logis. Niemand stört sich an mir.

Um fünf regnet es noch immer. Zum Morrisons Daily an der George Street, Abendessen und eine Flasche Rioja für Leo und mich. Die Straßen von Oban zu jeder Tageszeit gleich verstopft. Um sechs das Radl aus dem Hostel schieben, die Flasche Wein an einer Tasche eingespannt. Es hat eben aufgehört zu regnen.

Zwei Kilometer die Ganavan Road der Küste entlang. Eine verwucherte Einfahrt, ein liebes Cottage, ein rostiges Weidetor. Vorm Tor ein himmelblauer Fiat Panda inmitten allerhand Gerümpel. Ein absurd steiler Weg führt durch nasses kniehohes Gras den Hügel hoch.

Oben eine kleine zweigeschossige Hütte, eine Sprossenleiter erschließt das Obergeschoss. Neben dem Eingang die Komposttoilette. Drinnen noch rustikaler als draußen, Leo reicht gleich eine dampfende Tasse Tee. Spaghetti kochen auf der mobilen Induktionsplatte im Wohnzimmer und den Rioja aufmachen, der Abend verfliegt im Nu. Leo repariert Waschmaschinen in Oban und Umgebung, ein Freiberufler und -geist. Über Jahrzehnte beherbergt er über 2.000 Reisende via Couchsurfing und Warmshowers.

Sein Nachname eindeutig italienisch. Die Großeltern aus einem heute verlassenen Ort im Lazio. Nach dem Ersten Weltkrieg emigrieren sie nach Oban und eröffnen eine Gelateria an der George Street. Jahrzehnte später verkauft man wegen Streitigkeiten in der Familie das Lokal, heute der Morrisons Daily.

In Reaktion auf den Brexit will Leo eine italienische Staatsbürgerschaft beantragen. Laut der zuständigen italienischen Behörde beträgt die Bearbeitungsdauer nach Einreichung der notwendigen Dokumente der Großeltern etwa drei Jahre.

Spätabends in der Shed nebenan den Schlafsack ausbreiten.


  1. Klo 


Kommentare (1)

Dad, am
thank you for the accommodation Frank and Leo Schottland wahrlich kein Land für Weicheier 🌧 Ein Hoch auf die beheizten Teestuben 🫖 Gutes nicht allzu "rasantes" weiterradeln 🚴‍♂️

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