Der Sprung vorwärts
Die Pennines beginnen etwa auf der Höhe von Liverpool und erstrecken sich gen Norden bis zur schottischen Grenze. 2018 das Mittelgebirge gute 250 km bis zum Hadrianswall abwandern. Ausrede genug um Nordengland zwischen Liverpool und Carlisle auszulassen.
Der Süden von Schottland ist halt auch ziemlich flach und fade. Also frisch1 nach Glasgow fahren.
Von Liverpool nach Glasgow
15. und 16. Juli 2024
Die Ortliebs stehen gepackt in der Bar, unter einem Gurt klemmt das feuchte Reisehandtuch. Der Zug geht erst knapp nach zwölf, Zeit zum Trödeln. Eliza kommt in die Lobby, einen enormen Reiserucksack am Rücken, einen kleinen am Bauch. Gute Reise nach Bristol!
Der Bahnhof Liverpool Lime Street keine zehn Minuten entfernt. Viel zu früh aufbrechen in Sorge über Unvorhergesehenes. Ein Kleinlaster hält neben mir an der roten Ampel, der Straßenarbeiter am Steuer fragt zu meiner Reise. Ich leicht gestresst vom Liverpooler Verkehr, er ganz Ohr. Dankbar für die übers Motoraufheulen zugerufene Ermutigung wie die Ampel auf Grün springt.
Entspannter die letzten Kilometer über die sonnige Fußgängerzone der Paradise Street. Gegenüber Bahnhofshalle die neoklassische St George’s Hall. Zu wenig gesehen von Liverpool.
Eine hellen Halle, Gewusel hinter den Stumpfgleisen. Beim Ticketautomaten die Onlinetickets drucken. Die Maschine druckt zehn Tickets für eine Fahrt ohne Umstieg.
Ticket, Passenger Copy, Fahrradticket, nochmal Passenger Copy und Collection Receipt. Das ganze in doppelter Ausführung wegen dem Split Ticketing. In Großbritannien sind mehrere Tickets für Teilstrecken in Summe oft günstiger als ein einzelnes Ticket für die Gesamtstrecke. Absurderweise gilt das auch für Direktzüge.
In meinem Fall sind zwei Tickets, von Liverpool nach Oxenholme und Oxenholme nach Glasgow günstiger als ein Ticket von Liverpool nach Glasgow. Den Platz oder gar Zug wechsle ich auf der Fahrt nicht. Die Buchungsplattform ermittelt den optimalen Split automatisch. Was bringt dieses System? Nix.
Der Transpennine Express ein schicker hellblauer Niederflur-Flitzer. Das einzige Radl an Bord. Angurten, einen Crumpet futtern und zum Platz aufmachen.
Den Fensterplatz am Vierertisch, das Wi-Fi wie immer schlecht. In Preston füllt sich der Zug. Zwei Frauen setzen sich gegenüber, ein besonders gedrungener Mann neben mich. Sein Körper verdrängt meinen Ellbogen von der Armlehne.
Der Mann mit dem dichtesten Nasenhaar und der tiefsten Bassstimme spricht mit stark schottischem Akzent. Er öffnet ein Packerl Salt and Vinegar Chips und hält sie mir hin. Wie ich ihm erzähle wo ich herkomme und hinwill, verlangt er dass ich das ganze Packerl esse. In der Pension wollte er sich auch immer ein gutes Radl kaufen, ein Sturz vom Dach ruiniert die Hüfte. Ein Leben lang Zimmermann, jetzt malt er Gemälde. Ich soll mir unbedingt die Kelvingrove Art Gallery in Glasgow anschauen.
Von Glasgow Central hinaustreten auf die Hope Street. Auf den ersten Blick anders als England, europäischer. Auf breiten Einbahnstraßen mit getrennter Fahrradspur in den westlichen Teil der Stadt. Die Brücke über den Kelvin River zu einem kleinen Fahrradladen an der Gibson Street. Das bei hohen Geschwindigkeiten auftretende Schleifgeräusch in der Vorderradnabe beunruhigt aber der junge Mechaniker meint das Lager sei in Ordnung. Für den durchgeriebenen Hinterradreifen leider kein passender Ersatz vorrätig.
Noble viktorianische Häuser reihen sich im zu einem Halbkreis um den höchsten Punkt des Kelvingrove Park. Die Fassaden erinnern an Bath. Im 18. und 19. Jahrhundert baut man in Glasgow viel mit dem hier vorkommenden beigen Sandstein. Die Jugendherberge in einem der Häuser an der Park Terrace.
Stuck, Leuchter und edle Polstermöbel versprühen die klassische Eleganz des ehemaligen Beacons Hotel. Der Tischtennistisch im Wohnzimmer, das abgewetzte Stiegengeländer und Pop-Punk aus dem Radio schaffen lässige Gemütlichkeit. Der alten Leitungen wegen ist das Wasser nur in der Küche im Kellergeschoss trinkbar. Wie immer bevölkert eine französische Schulklasse das Hostel.
Im Zimmer drei Stockbetten, vom Fenster blickt man über den Kelvingrove Park runter zu den Bauten entlang des River Clyde. Am Abend roter Sonnenuntergang. Hellgraue Regenwolken am Morgen.
Den Vormittag über zum Schreiben in die gemütliche Lounge setzen. Der Regen lässt nicht nach. Auf Serpentinen den steilen Kelvingrove Park runter zu der im Zug empfohlenen Kelvingrove Gallery. Ein rotes Sandsteingebäude im Stil des spanischen Barock.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist das schottische Eisenbahnnetz so weit ausgebaut, dass man bevorzugt mit dem witterungsbeständigeren roten Sandstein aus dem 100 km südlich gelegenen Dumfries baut. Das rote Gestein entsteht vor gut 270 Millionen Jahren als eine riesige Wüste das Gebiet des heutigen Schottland bedeckt. Eine eisenhaltige Schicht umhüllt die Sandkörner und gibt dem Stein seine rote Farbe.
Das Museum gut besucht, wie in allen nationalen Museen Großbritanniens ist der Eintritt frei. Hohe Schwingtüren führen in eine prunkvolle Halle, umdrehen und die riesige Orgel über dem Eingang bestaunen.
Im Erdgeschoss eine Ausstellung zum Mackintosh-Ehepaar, zwei führende Persönlichkeiten der Art-Nouveau Bewegung in Glasgow. Margaret MacDonald Mackintosh und ihr Mann Charles Rennie Mackintosh stellen 1900 in der Wiener Secession aus und beeinflussen unter anderem Gustav Klimt.
Im Obergeschoss ein kleiner abgedunkelter Ausstellungsraum. Drinnen hängt einsam der Christ of Saint John of the Cross von Salvator Dalí. Der spanische Surrealist verzichtet in seiner modernen Christusdarstellung auf Nägel, Blut, Dornenkrone und gequälten Gesichtsausdruck. 1952 erwirbt der frühere Museumsdirektor Tom Honeyman das Gemälde um den damals stolzen Preis von 8.200 £. Vehementer Protest von vielen Seiten, rückblickend eine höchst lohnende Investition.
Über Mittag füllt sich die große Halle. Rechtzeitig einen Platz an der Balustrade gegenüber der Orgel sichern. Täglich um eins das Organ Recital. Fulminanter Beginn mit Toccata und Fuge, dann ein Volkslied, dann die Titelmusik von Harry Potter, ich gehe weiter.
Unscheinbar in einer Vitrine an einem Verbindungsgang die Avant Armour. Gefertigt um das Jahr 1440 in Mailand für ein Mitglied der Familie Matsch. Das schweizerisch-österreichische Adelsgeschlecht hat damals seinen Stammsitz in der Churburg in der Südtiroler Gemeinde Schluderns. Der älteste nahezu komplett erhaltene Harnisch der Welt. Avant vom italienischen Avanti (‘Forwärts’) ist an mehreren Stellen entlang der Brustplatte eingraviert.
Die Stunden verfliegen im Museum, mit Magenknurren durch den Kelvingrove Park hoch zur Jugendherberge. Kaffee in der Lounge, die Sonne durchbricht endlich die dichte Wolkendecke und landet durch das hohe Fenster sanft am Teppichboden.
In der Abendsonne die Woodlands Road runter. Die Verkehrsschneise von Motorway 8 und St George’s Road trennen den westlichen Teil der Stadt ab. Kerzengrad die Sauciehall Street entlang ins Zentrum. Nach Preisvergleich in drei Souvenirläden für ein Paar witziger Nessie Socken entscheiden. Alle Hostels in den westlichen Highlands abtelefonieren, am Samstag werde ich wohl draußen schlafen. Pause im Waterstones, eine italienische und eine französische Kurzgeschichte lesen, ich kanns noch!
Rechts abbiegen auf die geschäftige Buchanan Street. Wieder nach links zum George Square. Hunderte Menschen genießen die Abendsonne am weitläufigen Platz. Einige füttern großzügig aus mitgebrachten Beuteln riesige Scharen von Tauben und Möwen. Die prächtigen City Chambers am westlichen Ende des Platzes mildern ein wenig den resultierenden Eindruck der Verwahrlosung.
Weiter in den östlichen Teil der Stadt zur Kathedrale von Glasgow. Geschlossen und von Gerüsten verhüllt, der Vorplatz ausgestorben. Mit einem Bus zurück in den Westen und ans Ufer des River Clyde. Vorbei unter einem riesigen Kran. Der Finnieston Crane verweist nur mehr auf das industrielle Erbe der Stadt. 53 Meter hoch und eine Traglast von 175 Tonnen. Über das 20. Jahrhundert verlädt der Kran gut 30.000 Lokomotiven auf Schiffe die diese ins Britische Empire exportieren.
Ein paar Minuten weiter eine Konzerthalle, der Armadillo. Die Ähnlichkeit zum Gürteltier unbeabsichtigt, den Name vergeben die Glasgower:innen. Eigentlich sollen die überlappenden Schichten Schiffshüllen darstellen als Verweis auf das Schiffbauerbe von Glasgow. Der Vorplatz ausgestorben, ein einsamer Wachmann beobachtet mich argwöhnisch.
Eine pinkverglaste Brücke führt zu Fuß Gehende und Radelnde vom Armadillo über die A815. Pure Freude durch den in pinkes Licht getauchten Tunnel zu spazieren. Einmal keinen Frust empfinden über die übliche Schikane zugunsten eines ungestörten Kraftverkehrs.
Die letzten Sonnenstrahlen vergolden die Sandsteinfassaden an der Argyll Street. Letzte Besorgungen im Tesco Express und hoch ins benachbarte Kelvingrove.
Im Zimmer riecht es streng nach zu lange getragenen Sneakern. Bis spät in die Nacht in der Lounge tippen. Schon im Stiegenhaus sägendes Schnarchen, es kommt aus meinem Zimmer. Schleichen überflüssig.
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Im Südtiroler Dialekt hat das Wort ‘frisch’ die zusätzliche Bedeutung ‘gleich’. ↩