Hwyl fawr
Baba Wales.
Von Conwy nach Liverpool
13. und 14. Juli 2024
Sonne und Westwind, perfekte Bedingungen für die lange Etappe nach Liverpool. Ein letztes Mal durch das Mistaroma der Stallungen. Vorbei an der Wohnwagen-Rezeption in die Freiheit. Die drei Jack Russel Terrier liegen unverändert im Wohnwagenfenster.
Zum Strand von Rhos-on-Sea und mit Vollgas am Radweg den Brandungsmauern entlang. Die Sustrans Route 5 hier besser ausgebaut als nach Conwy.
In einer guten Stunde 30 km durch kleinere Seaside Towns bis Prestatyn. Mit fortschreitendem Vormittag füllen sich Radweg und Strandpromenade. Ein glatzköpfiger Mann ruft mir etwas zu wie mit 30 km/h vorbeirausche. Abbremsen, Have you got a pump?. Er und seine dicke Frau auf geliehenen E-Bikes, sein Hinterrad einen Patschen. Den Kopf der Handpumpe aufs Schraderventil umstecken und ihn pumpen lassen. Hörbares Zischen wie der Reifen praller wird. Also dann viel Glück noch!
Im 19. und 20. Jahrhundert sind Prestatyn und die zahllosen kleineren Küstenorte beliebte Urlaubsdestinationen. Breite Strände zur Irischen See und vergleichsweise gutes Wetter, die Regenwolken des Atlantik entladen sich an den Gipfeln des Eryri Nationalpark im Westen. In den 60er-Jahren der rasante Niedergang der britischen Seebäder. Leistbare Flugreisen und stillgelegte Zugverbindungen, die britische middle class fliegt lieber all-inclusive nach Spanien oder Griechenland. Nachvollziehbar.
Hinter Prestatyn über einen Golfplatz. Eine Schranke markiert den Beginn eines riesigen Holiday Park. Der Sicherheitsmann schaut fern und bemerkt mich nicht, schulterzuckend an der Schranke vorbeischlängeln. Endlose Gassen mit kleinen beräderten Holzhäusern. Die Bewohner:innen kurven in Autos und Golfkarts zum on-site Shoppingcenter, Hallenbad oder Burger King.
Am Ende eine naturbelassene Wiese hinter einem Weidetor. Einem Bub mit schokoladeverschmiertem Mund helfen seinen im Gras schnüffelnden Yorkshire Terrier durchs Tor zu ziehen.
Hinter Prestatyn verlässt die Radroute 5 die Küste und klettert auf 200 Meter Seehöhe. Keine Lust auf unnedige Umwege, weiter der Küste entlang auf der A548 30 km zur Mündung des River Dee. Zurück auf der Route 5 über die Hawarden Bridge, einer alten Eisenbahnbrücke. Wales endet wenige Kilometer hinter der Brücke. Hwyl fawr.
Leere Straßen im weitläufigen Deeside Industrial Park, dann die unberührte Natur der Burton Mere Wetlands. Kurz vor Neston Regen, Flucht in die The Harp Inn. Eine Frau und ihr Mann sitzen am Tisch gegenüber der Bar, ein gigantischer weißer Pudel zu ihren Füßen.
Am Tresen einen Tee bestellen und warten. Nach einer Weile resigniert ins Nebenzimmer setzen. Rabiates Knurren und über Fliesenboden schlitternde Krallen jedes Mal wie ein Hund das Lokal betritt. Nach einer Viertelstunde bringt der bärtige Mann mit Magic the Gathering Leiberl endlich die randvolle Tasse Tee und pluttert1 ordentlich beim Hinstellen.
Der Regen vorüber, die letzten 20 km durch eintönige Vororte nach Birkenhead. Der Ort liegt am linken Ufer des River Mersey direkt gegenüber von Liverpool. Die erste Brücke über den Mersey gute 25 km flussaufwärts. Liverpool war und ist ein wichtiger Hafen, um den Schiffsverkehr nicht zu behindern baut man lieber Tunnel als Brücken. Radln im Tunnel verboten. Zur Station Conway Park und mit dem Zug unter dem Mersey durch nach Liverpool.
Reizüberflutung auf den Straßen vor Liverpool Central am späten Samstagnachmittag. An jeder Ecke dröhnt laute Musik aus drei verschiedenen Lokalen. Im Schneckentempo durch die absurd verstopften Straßen zum YHA am Albert Dock.
Ein hoher Metallzaun umzäunt das YHA Grundstück. Wie so oft ist eine französische Schulklasse vor Ort. Stinkesockenaroma im Zimmer, ein junger Ire und Schotte liegen komatös in ihren Betten. Wäsche waschen und im letzten Gewand bis spätabends im gemütlichen Wohnzimmer die müden Glieder rasten. Um halb eins ins Zimmer schleichen, die Mates kommen erst gegen drei mit einem Schwall Alkoholdünste ins Zimmer und drehen erst mal das Licht auf.
Um sechs stehen die ersten auf, um halb neun die Mates noch im Koma. Am späten Vormittag zum nahen Albert Dock schlendern. 1846 komplett aus Stein, Ziegel und Gusseisen errichtet, der erste feuerfeste Warenhauskomplex der Welt. Heute reihen sich Bars, Restaurants und Souvenirläden hinter den blassroten gusseisernen Säulen.
Der transatlantische Handel mit Waren und Sklaven macht Liverpool im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts zu einer blühenden Metropole. Mit der Great Depression kommt der Boom zum Erliegen. Nach London die am stärksten durch die Luftwaffe bombardierte Stadt Großbritanniens. Heute hat Liverpool deutlich weniger Einwohner:innen als zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
An allen Ecken trifft man auf die Beatles. Im Laufe der 60er-Jahre verbreiten sie den Liverpooler Merseybeat in die ganze Welt.
Auf einer schmalen Brücke über das Canning Dock zum Royal Liver Building, dem Wahrzeichen der Stadt. Das historisch anmutende Gebäude besteht überwiegend aus Stahlbeton, 1911 revolutionär. An der Turmspitze die zwei riesigen Liver Birds. Der Legende nach verschwinde die Stadt flögen die Vögel davon. Zur Sicherheit kettet man sie deshalb an den Turm.
Das Liver Bird ziert auch das Wappen der Stadt. Die Vogelart ändert sich über die Jahrhunderte, Adler, Taube, Löffler (niederländisch: Lever) und seit 1797 ein Kormoran mit Algenblatt (Laver Seaweed) im Schnabel. Kormorane fressen keine Pflanzen.
Hungrig ins Museum of Liverpool. Umfassende aber chaotische Austellungen zu allem was auch nur irgendwie Liverpool tangiert. Eliza aus dem YHA schlendert auch durchs Museum, die Australierin will die nächsten 8 Monate durch Europa reisen.
Am Heimweg eine Weile an der Brücke über dem Canning Dock stehen. Das Wasser voller Quallen.
Sehr spätes Mittagessen im YHA. Mit Eliza im Wohnzimmer plaudern. Um acht mit einem Forged Irish Stout von der Bar den riesigen Flachbildschirm im Wohnzimmer aufdrehen. Eine kleine Schar sitzt schon in der Bar versammelt. Wie der Fernseher anspringt schreckt die ältere französische Dame im Sofa hoch: Le foot ici, le foot là, le foot partout!
Schreie aus der Bar halten die Spannung in Grenzen, der Fernseher im Wohnzimmer überträgt mit einigen Sekunden Verzögerung. Am Ende Stille, der schottische Zimmergenosse ist zufrieden.
Der Spuk vorüber noch eine Weile in den Loungesesseln der Bar sitzen und die BBC News schauen. Ein Scharfschütze schießt auf das Ohr von Donald Trump. Ein großgewachsener junger Mann aus Bermuda erzählt uns von seiner eigenartigen Heimat. Wieder vor den Mates im Bett.
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Südtiroler Dialekt für ‘klecksen’, ‘verschütten’ ↩